Zu-fall

Christian Graf

Die Wissenschaften wissen Vieles über unsere Welt und ihre Zusammenhänge. Und wo dieses Wissen ist, da ist die Welt beherrschbar geworden. Nun gibt es allerdings – noch immer – auch Vieles, was die Wissenschaften nicht wissen und was sich dementsprechend der Beherrschbarkeit entzieht. Doch wer weiss, wie weit das Wissen noch fortschreitet? Vorläufig jedenfalls haben wir mit ihm zu rechnen: mit dem Nichtverstandenen und also Unverfügbaren . Wir nennen es Zufall . In dem, was die Wissenschaften aufgeklärt haben, lassen sich Strukturen und Gesetzmässigkeiten erkennen. In diesen zeigt sich uns Sinn und Ordnung. Der Zufall aber ist blind und sinnlos. Auf ihn können wir nicht bauen.

Nun kennen wir jedoch alle die Erfahrung, dass uns eine tiefe Einsicht, eine zündende Idee wie ein unerwartetes Geschenk zu-fällt und unserem Leben eine neue Richtung gibt. Zu-fall, Eingebung. Auch solcher Zu-fall ist unverfügbar; aber von ihm hängt der Sinn unseres Lebens ab. Es scheint uns, als liesse sich auf dergleichen Erfahrungen aufbauen. Auf dem Zufall? Nein, auf dem, was uns zugefallen ist. Die Einsicht festigt sich und wird zur Überzeugung, die uns Halt gibt und uns künftig trägt.

Doch es meldet sich Widerspruch. Überzeugungen sind der Anfang von Intoleranz und Verblendung. Da steht halt die typisch europäische Überschätzung der Individualität dahinter. Der Wahrheit näher kommt man, wenn überhaupt, im Gespräch, im Diskurs. Nichts ist täuschungsanfälliger als private Eingebungen und Erweckungserlebnisse. Sie vertragen sich nicht mit der säkularen, öffentlichen Vernunft, jedenfalls nicht, wenn sie eine Bedeutung für sich beanspruchen, die über die Privatsphäre hinausgeht.

Man sollte sich die Wichtigkeit und den Wahrheitsanspruch eigener Eingebungen und Überzeugungen nicht ausreden lassen. Denn was dagegen vorgebracht wird, beruht auf einer falschen Alternative. Sie lautet: Individuum oder Gemeinschaft, individuelle oder gemeinschaftliche Suche nach der Wahrheit, Überzeugung oder Toleranz. Eine Gemeinschaft erhält einen erfüllten Sinn aber erst als Gemeinschaft von Individuen. Ein Gespräch ist dann im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, wenn es zwischen ausgeprägten Individualitäten zustande kommt. Und Überzeugungen stehen nicht in Gegensatz zu Toleranz, sondern sind deren Voraussetzung. Anders ist Toleranz blosse Gleichgültigkeit. Auch Liebe und Freundschaft werden dadurch nicht gefährdet, sondern gerade ermöglicht, dass beide Partner auf ihrer Individualität bestehen und das verbindende Band nicht in irgendwelchen konkreten Gemeinsamkeiten, sondern in dem gemeinsamen Fluchtpunkt der Wahrheit erkennen, auf den sich beide in je eigener, individueller Weise beziehen. Wo den individuellen, positiven Sinnerfahrungen ihre Wichtigkeit genommen wird (die negativen Erfahrungen von Grenzen und Mangel gelten heute viel eher als imstande, uns in Kontakt mit der Wahrheit zu bringen), da wird auch deren Kultivierung ausbleiben. Und dies führt zu einem spürbaren Defizit, was die Entdeckung und Erprobung von sinnvollen Möglichkeiten der Lebensgestaltung angeht. Dies betrifft auch die Gestaltung des öffentlichen Lebens und die Politik. Alle Lebensgestaltung muss auf den Zu-fall individueller Sinnerfahrungen bauen. An der Wissenschaft findet sie keine Orientierung. Gerade insofern, als sich ein Leben die entscheidenden Impulse und Wendungen schenken lässt und sich von ihnen abhängig weiss, wird so etwas wie eine Lebensführung überhaupt denkbar. Anders spaltet es sich auf in einen getriebenen, defensiv durchlebten Berufsalltag und eine den privaten Hobbies gewidmete Freizeit, in die sich die letzten Reste an Gestaltungskraft zurückziehen.

„Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ sagte einst Immanuel Kant, der Aufklärer. Heute muss man eher sagen: „Habe Mut, auf Deine Eingebungen und Überzeugungen zu bauen!“

Wohlverstanden: Nur einem offenen, lernbereiten und seinen Gegenstand der Bewährung aussetzenden Vertrauen kann solche Aufforderung gelten. Dieses Vertrauen darf sich nur auf den Kern einer Einsicht oder Überzeugung, nicht auf ein Dogma richten, und dieser Kern hat immer neu in Frage zu stehen. So aber gibt es keinen vernünftigen Grund, der gegen eine derartige Aufforderung spräche.

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